Offene Trauer
von Klaus Thomas
Zum
ersten Mal in diesem Dorf. Drei Wochen zum unauffälligen
Beobachten. Auch das eine Illusion. Als Fremde sind wir keinesfalls
unauffällig. Wir schauen und hören. Der dort ist der
Bürgermeister. Mit Respekt begegnen ihm die Dorfbewohner, doch auch mit
Widerspruch und Forderungen.
Am Abend sind wir auf dem Weg zur kleinen Taverne am Ende der Gasse, neben der
Kirche. Vor dem Nachbarhaus kauert eine geschwächte, greise Frau
auf einem zu niedrigem Hocker in ihrer Eingangstür. Sie wirkt
teilnahmslos. Der Tavernenwirt erklärt, sie sei die Mutter des
Bürgermeisters. Sie ist krank, möchte oft lieber vor der
Tür sitzen, als im Bett liegen.
Am nächsten Nachmittag kehren wir nach einer Wanderung zurück
ins Dorf. Auffallend viele Autos aus dem Nachbardorf parken heute hier.
Doch wo sind die Menschen? Auffallend leere Gassen. Die meisten
Geschäfte und Tavernen geschlossen.
Der monotone Kirchenglockenschlag bohrt sich gnadenlos ins Bewusstsein.
Da biegen schon die Träger mit dem geschulterten Sarg um die
Ecke. Dahinter der erschütterte Bürgermeister, zerzauste
Haare, gerötete Augen, gestützt von seinen beiden
Söhnen. Wütend vor Verzweiflung schreit er klagend seine
Trauer heraus. Dahinter der lange Zug der Bewohner der ganzen Gegend.
Wir haben Bürgermeisters Mutter wenige Stunden vor ihrem Tod
gesehen. "Endlichkeit unterliegt
Ewigkeit" Die Verdrängung dieser gnadenlosen Wahrheit scheitert
immer wieder, warum nicht auch im Urlaub? Wir wollen in die Tiefe des
griechischen Alltags schauen. Wundert es uns, dass in Griechenland
gestorben wird? Erinnerung an den eigenen halbbewältigten Verlust
scheint auf.
Diskret drücken wir uns in einen Hauseingang. Wie verhalten wir
uns? Gern würden wir der griechischen Etikette genügen, nur
fehlen uns die Kenntnisse. Zur Vermeidung von Peinlichkeiten gar nichts
zu tun, so wissen wir aus eigener Erfahrung, ist die schlechteste aller
Strategien.
Bei nächster Gelegenheit bekunden wir dem Bürgermeister
vorsichtig, ein bisschen englisch, ein bisschen griechisch, ein
bisschen gestikulierend, unser Mitgefühl. Vielleicht wirkt gerade
diese Ziererei befremdend, doch wird unsere Absicht dankbar anerkannt.
Am nächsten Tag sitzen wir mit dem Bürgermeister in grosser
Runde. Es wird wieder gelacht. Das Leben, auch dicht beim Tod,
will gelebt werden.
Zwei Jahre später beschliessen wir das Dorf ein nächstes Mal
zu besuchen. Gerade mit dem Schiff angekommen, mache ich mich auf die
Suche nach unserem Zimmervermieter. Auffallend
leere Gassen. Die meisten Geschäfte und Tavernen geschlossen.
Der Vermieter ist nicht in seiner Werkstatt. Ich gehe zurück
zum Dorfplatz . Gerade ist der Gottesdienst zuende. Es war der
Gedenkgottesdienst. Vor einer Woche ist der Bürgermeister
gestorben, fast genau zwei Jahre nach seiner Mutter. Diesmal gelingt es
uns der Frau unseres Vermieters, die eine Cousine vom Bürgermeister
ist, auf griechisch zu kondolieren.
© Klaus Thomas 2008
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