Orisate - sinnliches Willkommen
von Klaus Thomas
Erste Blicke, erste Schauer
Dieses Jahr wollen wir endlich mal Chalki kennenlernen, einen der
kleinen Rhodos-Nachbarn. Gleich zu Urlaubsbeginn ein paar Tage; es
bleibt immer noch genug Zeit für Tilos. Vom Flughafen aus, nicht
wie gewohnt nach Rhodos-Stadt, sondern Richtung Südwesten. Eine
völlig neue Rhodos-Perspektive: Leere Strände, unbebaute
Flächen, Felder, kleine Orte, eine Ziegenherde quert die
Straße. Auch das ist möglich auf Rhodos.
Nach 35 km Kamirou Scala. Wenige Häuser. Winziger Hafen. An jedem Wochentag liegt hier die Chalki-Fähre "Nissos Chalki". Von morgens um halb 8, wenn sie die Schulkinder bringt bis zur Rückfahrt um 14 Uhr.
Wir haben Zeit durchzuatmen. Feuchte Flecken auf Straße und Betonkai trocknen schnell. Es hat geregnet an diesem Septembermorgen. Der erste Regen nach mehrmonatiger Trockenheit. Die Freude über dieses Ereignis teilt sich dem Fremden schnell mit.
Gleichklänge, Untertöne
Einfach auf der Mole sitzen. Langsam ankommen. Das blaugrüne
Wasser läßt metertief schauen. Leises Glucksen. In der
Weite, leicht diesig, Chalki. Und die Gerüche, an die wir uns
einen Winter lang nicht erinnerten: Salbei überspielt von algigem
Meersalz. Das scheint nicht erwähnenswert für zwei Fischer
auf dem schattigen Achterdeck ihres Kaikis. Gesichter, Mimik, Gesten
zeigen den Eindruck jahrzehntelangen Erlebens der Geschichten von hier.
Dennoch gibt es viel zu sagen. Ausdrucksstark aber unaufgeregt.
Klangspuren dieser seltsamen Sprachmusik, wechselnde Tonhöhe mit
schnellem Tempo, ergänzen den Reiz unserer Sinne. Vertrautheit.
Wieviel Glück paßt in einem Moment?
Auf die "Nissos Chalki" passen immerhin 3 Fahrzeuge, sowie eine unglaubliche Menge an Kartons und Kisten. Erstaunlich voll diese kleine Fähre für diese kleine Insel. Viele Neuankömmlinge mit Koffern. Wir hätten hier eher die Rucksackszene erwartet. Es könnte mit den Zimmern knapp werden. Einfahrt in die gemütliche Bucht von Emborion. Kirche, Glockenturm, Dorfzentrum unweit vom Anleger. Rechts entdecken wir schnuckelige Appartements mit Terrassen direkt am Wasser. Dort werden wir's mal zuerst versuchen.
Gerüche, Gerüchte
Kaum senkt sich die Autorampe, sind wir an Land. Margit mit Gepäck
in der ersten Taverne zurücklassend eile ich, viel zu schnell
für einen Griechen oder Halbgriechen, zu den angepeilten
Häuschen. Sowieso maßt man sich das Etikett "Halbgrieche"
erst nach frühestens einer Woche an. Schnell wird klar, daß
nahezu alle Appartements von britischen Pauschalveranstaltern
weggebucht sind. Die Vermieter sind nicht präsent; ich treffe
lediglich auf Feriengäste. Mit diesem leicht ernüchternden
Zwischenbericht finde ich mich bei Margit und dem Gepäck ein "Die
favorisierten Meerterassenwohnungen können wir uns abschminken".
Das Aufsuchen der Toilette bräuchte nicht erwähnt werden, wäre da nicht dieser Reflex. Immer nach mehrmonatiger Abwesenheit. Die nach hinten langende Hand will das Klopapier sofort nach Gebrauch fallenlassen, um es dem Weg der Ausscheidungen durchs Abflußsystem hinterherzuschicken. Der Verstand interveniert gerade noch rechtzeitig und aktiviert bis auf weiteres das griechische Bewegungsmuster bei dieser alltäglichen Verrichtung: Gebrauchtes Klopapier in bereitstehenden Eimer!
Nun nehme ich mir die wenigen Pensionen vor. Zweifel keimen, als der Vermieter nur sehr schwer zu finden ist. Hinweise der Nachbarin und anderen Dorfbewohnern führen mich schließlich zu ihm. Ich sammle meine verbliebenen Hoffnungsfunken in der Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit. "Ooichi !" Sehr prägnant dieses leise Schnalzen mit sich leicht hebenden Kinn. Weil man es nicht wahrhaben will, möchte man darin gern ein bejahendes Nicken erkennen. Doch "oichi domatio" läßt keinen Zweifel ("kein Zimmer"). Dem Fremden mag diese alltägliche Verneinungsgeste wie ein arrogantes "Nein! Natürlich nicht! Wie kann man nur fragen?" erscheinen. Man sollte sich vor dieser Mißdeutung hüten. Der ernüchternden Absage folgt ein Erklärungsversuch "Congress". Ich glaube erst beim zweiten Hören richtig verstanden zu haben "Congress". Es ist das Gesprächsthema. Ab morgen wird hier eine Woche lang über "strukturschwache Gemeinden" oder so konferiert. Die Zimmerwirte können zufrieden sein. Der mitfühlende Rat, es vielleicht im Hotel am südlichen Ende der Bucht zu versuchen ... und besser in Zukunft vorzubuchen.
Im Hotel eine überraschende Szenerie: improvisierter Konferenzraum, Plenum, Podium, Mikrofone, Lautsprecheranlage. Der allgegenwärtige Kongress, auch hier oder gerade hier. Unerschrocken nähere ich mich der Rezeption. Zuvorkommend wird nach meinem Namen gefragt. Gleich nehme ich der netten Dame die Illusion: "Ich bin kein Kongressteilnehmer - haben Sie ein Zimmer frei?" Revanchierend desillusioniert sie mich: "Wenn Sie nicht gebucht haben ?... es ist leider nichts mehr frei." Sollte hier meine Irgendwas-findet-sich-immer-Überzeugung widerlegt werden? Immerhin kehre ich als unbelehrbarer Advance-booking-Gegner zu Margit zurück, die in Marias Taverne wartet.
Würziger Genuß
Einer von diesen quadratischen Holztischen, 20 Meter entfernt wiegende
Boote, auf der Pier gehäufte Fischnetze. Papiertischdecken von
Windklammern gehalten. Traditionelle Holzstühle mit geflochtener
Sitzfläche. Der erste Choriatiki in diesem Jahr. Warum erzeugt
dieser Bauernsalat mit seinen einfachen Zutaten nirgendwo anders als in
Griechenland einen vergleichbaren Gaumenspaß? Leise Lyramusik von
drinnen. Das Gehör stimmt sich ein. Sämtliche Sinne schwingen
in Resonanz, sie lassen einem prosaischen Gedanken wie "Wo schlafen wir
heut nacht?" oder ähnlich unwirklich entfernten Fragen keine
Chance.
Doch Maria, die unsere Bemühungen bemerkte, schlägt vor, wir sollen Captain Niko fragen. Wir realisieren, daß der Kapitän von "Niko's Express", der zweiten Fähre, gemeint ist. Ein Crew-Mitglied zeigt uns auf Nachfrage Niko. Für'n Käptn hätte ich ihn nicht gehalten. Immerhin fernsichtige Augen eines Seefahrers. Geübt sicher auch durch gelegentliches Abschweifen des Blickes vom Fern- ins Ouzo-Glas. Gleichgewichtssichernd breiter Gang, routiniert reale und virtuelle Schwankungen ausgleichend. Unverwaschen blaue Jeans, weiter Schnitt, umgekrempelte Aufschläge. Der Schritt verliert sich auf Oberschenkelhöhe. Damit markiert Captain Niko die Avant-Garde der Hosenmode. Aus faltigen Gesichtszügen, die seit Dekaden Salzgischt und Sonne vertragen, grummelt die Erlaubnis, daß wir an Bord schlafen dürfen. Er müsse allerdings vorher noch nach Rhodos. Er käme gegen halb zehn zurück.
Es ist jetzt 18Uhr . Müde wegen unseres Nachtfluges sehnen wir uns nach
Schlaf. Aber die dreieinhalb Stunden werden wir noch aufrecht durchhalten,
können wir uns doch danach auf gepolsterten Bänken langmachen.
Als Niko's Express gegen 7 Uhr noch nicht abgelegt hat, fragen wir uns,
ob wir mit seinem abendlichen Rhodos-Trip irgendwas falsch verstanden haben.
Doch gegen halb acht startet Niko den Diesel und 'ne halbe Stunde später
werden die Leinen losgeworfen. Vor 22Uhr30 kann er nicht zurück sein,
schätzen wir.
Diese gelegentlich für den Verstand des Fremden wunderbar
befremdlichen Geschehnisse sind Teil des liebenswerten Charmes der
Hellenen, den antiken Meistern der Logik. Niko läßt keine
weiteren Zweifel an unserem Verstand aufkeimen und kommt mit seinem
Express nicht etwa um halb zehn zurück, wie angesagt, und auch
nicht um halb elf, wie von uns geschätzt. Gegen Mitternacht sind
rot-grüne Positionslichter zu erahnen. Unwesentlich später
bestätigt sich zu unserer Freude, daß es die von Niko's
Express sind. Er bringt einen Passagier mit. Auch hat er wohl auf
Rhodos eine weitere Trainingseinheit in Sachen
"Körperstabilisierung bei virtuellen Schwankungen" absolviert. Mit
einem, für Kurzsicht-Distanzen an Land deutlich unterforderten
Blick, deutet er uns, das Gepäck an Bord zu bringen. Wir
dürfen das Klo benutzen und machen uns ohne weiteren Zeitverzug
auf den Sitzbänken lang. Damit ist die Regel wieder mal
bestätigt: Ein Schlafplatz findet sich überall.
Dem Spüren auf der Spur
Richtung Kamirou Scala, also Osten. Dorthin, wo der Morgenschimmer die Silhouette von Rhodos zeichnet. An Oberdeck sitzend bestaunen wir das Farbenspiel: Aus schwachem Grau kriecht Beige, Ocker, Bordeaux. Die wenigen Wolken von unten kräftig rot angestrahlt. Ein vergängliches Gemälde rotgelber Farben, fast unmerklich der Verlauf zu weißblau. Unser karges Frühstück: Von Chalki mitgebrachter Knoblauchzwieback abgerundet mit Tee von Bord. Hier wird es zum Genuß. Jetzt das überwältigende Finale: Leuchtende Nasenspitze lugt über die Berge, schnell zum rotglühenden Halbkreis verbreitert. Dann zeigt sich der ganze Künstler: Ilios. Rhodos ist seit jeher dem Sonnengott eine wahrhaftig würdige Heimat. Wer wolle behaupten, das sei eine Kugel? Auch kein wirklicher Kreis, vielmehr elliptisch abgeplattet. Minutenschnell entzieht er sich durch gleißendes weiß weiterer Betrachtung. Sofort bringt er uns wohlige T-Shirt-Wärme.
Auch der erste neue Tag also läßt uns eine überwältigende Begrüßung zuteil werden. Was kümmert uns da der Taxifahrer, der uns von Kamirou Scala nach Rhodos-Stadt bringt. Als er mitbekommt, daß wir nach Tilos wollen, funkt er mit seiner Zentrale und teilt zu unserer Freude mit, daß heute noch eine Tilos-Fähre geht, aus dem Commercial Harbour. Obwohl weiter entfernt bietet er freundlicherweise an, uns für den gleichen Preis direkt dorthin zu chauffieren. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Hafenpolizist erklärt er uns, die Fähre würde in Kürze kommen, um dann gleich wieder abzulegen. "Seltsam" denken wir noch. Sie liegt sonst immer 2 bis 3 Stunden hier. Schon ist der Taxifahrer entschwunden. Ich frage denselben Hafenpolizist nach der geplanten Abfahrtszeit und bekomme die überraschende Antwort, daß heute gar keine Fähre nach Tilos geht.. Und wir mit unserem Gepäck im öden Commercial Harbour. Doch was kümmert uns das?
Wir sind hellassüchtig, nach dem von Logik unbeschwerten Genuß
© Klaus Thomas 2000
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