Einseitige Idylle

von Klaus Thomas

Unterhalb des Gipfels schmiegt sich das winzige Dorf  fest an die meerabgewandte Flanke des Berges, denn von See drohten seit jeher feindselige Blicke, denen man besser verborgen blieb.
Ich sitze im Kafenion, dem einen der beiden hier im Dorf. Als Fremder mache ich täglich von meinem Privileg Gebrauch frei wählen zu können. Traditionell verfügen auch kleinere Dörfer über ein sozialistisches und ein konservatives Stammlokal.   Entsprechend seiner politischen Gesinnung besucht jeder Dorfbewohner ausschliesslich eins der beiden.o

In diesem Dorf haben die Sozialisten den Vorteil der überwältigenden Panoramaaussicht.

Ich sitze auf dem schmalen Balkon und lasse meinen Blick vom weiten Tal
öffnen bis zu den jenseitigen Bergen. Mir gehen Herz und Seele auf. Als Küstenbeheimateter meinte ich Bergen nichts abgewinnen zu können. Welch ein Irrtum. Die meditative Lyra- und Tzambuna-Musik, etwas gedämpft auf ihrem Weg vom Lautsprecher hinterm Tresen zu meinem Ohr, erscheint als passende Begleitung meines Sehens und Fühlens.
Kein Zufall. Es ist die Musik von hier. Klanggewordenes Empfinden zweier Brüder aus dem Dorf. Aufgenommen bei einem dieser spontanen Musikabende.
Besser kann das fruchtbare bergbekrönte Plateau vor meinen Augen nicht beschrieben werden, als durch diese rauen Töne und diesen kreisenden Rhythmus.
Eine sensationelle Leichtigkeit durchströmt mein Bewusstsein. Wie überwältigend ist das denn?
Hab ich da was in's Auge bekommen? Feuchte trübt den Blick. Doch die Selbstwahrnehmung ist klar und scharf die Sinne.  

Der Begriff "Allein" schwingt mir wohlklingend im Geist, als treffendste Verdichtung meines Fühlens hier und jetzt: "Mit Allem eins". Verschmolzen im Sehen und Hören bin ich ganz bei mir.

Daran ändert sich auch nichts, als der alte Wirt am zweiten Tisch auf diesem kleinen Balkon platznimmt, nachdem er mir ein Tellerchen frischer Feigen hingestellt hat. Mit dem Hinweis "Aus eigener Ernte" fordert er mich stolz auf, die leckeren Früchte zu probieren.
Eine Weile lassen wir unsere Blicke stumm über die Berge schweifen. Dieses Panorama kennt er seit seiner Kinderzeit, doch zweifellos verliert sich die Faszination dieses Ortes auch nach einem Menschenleben nicht. Beide wertschätzen wir die Begeisterung des anderen.

Jetzt steht ihm der Sinn nach Dialektik:
"Was gefällt dir hier?" fragt er provozierend.
Ich mühe mich Worte zu finden
"Ja, es ist schön hier ..." pflichtet er bei " ... doch das Dorf stirbt - Es gibt nicht genug Arbeit"
"Aber der Tourismus ... " wehre ich ab "... gibt euch Arbeit. Dir zum Beispiel."
"Ich bin alt. Der Tourismus reicht nicht. Die Jungen gehen weg. Suchen Arbeit in Athen oder im Ausland. Gründen dort ihre Familie. Ich habe jahrelang im Piräus gearbeitet. Nur wenige Alte kommen zurück, um hier zu sterben."  

Dieser Ort, der mir Fremden friedliche Idylle ist, lässt seine Bewohner hart um ihre Existenz kämpfen, vertreibt sie gar.

© Klaus Thomas 2008


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