Entlegene Herzlichkeit

von Klaus Thomas

Dieser abgelegene nördliche Teil von Karpathos mit seinen beiden bewohnten Dörfern Diafani und Olympos hat bezüglich seiner schwierigen Verkehrsanbindung den Charakter einer eigenen Insel. Nur über eine unbefestigte, löchrige Gebirgspiste gelangt man hierher, behindert durch das Erosionswerk des Winterrregens: herabgefallene Brocken und abgerutschte Fahrbahnteile.

Es gibt keine Busverbindung mit dem Südteil. Die Autovermieter dort erlauben einen Ausflug in den Norden nur mit Geländewagen. Die meisten Taxifahrer verweigern die Tour mit Hinweis auf das Risiko von Beschädigungen am Fahrzeug.
Der Hauptweg für Personen- und Warentransporte führt übers Wasser vom Hafendorf Diafani im Norden zur Inselhauptstadt Pigadia im Süden.
 
Von Diafani aus folgen wir dem archaischen Fussweg entlang eines Wasserlaufs, dann die steile Flanke hoch.  Sturmgebeugte Pinien erzählen von der Stärke und Richtung häufiger Winde. Gegenseitig Schutz bietend verdichten sie sich zu einem schattenspendenden Wäldchen. Durch das federnde Nadelbett stapfend lassen wir uns vom harzigen Duft betören. Die Mühe eines weiteren Anstiegs auf einem Natursteintreppenweg wird mit überwältigendem Panoramablick belohnt von den Gipfeln über die Schlucht bis zurück zum Meer. 

olymposMit angeregten Sinnen und ermüdeten Körpern erblicken wir das Ziel unserer zweistündigen Wanderung: Gleich dem namensgebenden Göttersitz thront dieses Dorf herrlich erhaben am Berg.

Spät genug sind wir von unserem Quartier in Diafani gestartet, so dass wir jetzt in Olympos ankommen, als die Tagestouristen ihre Dorfbesichtigung gerade beendet haben. Ungeduldig versammeln sie sich auf dem Parkplatz am Rand des wegen seiner Treppengassen nicht befahrbaren Ortes. Dank seiner Hanglage ist Olympos vor Autoverkehr geschützt. Die Kurzbesucher drängeln vor den beiden Bussen, die sie zu ihrem in Diafani wartenden Ausflugsschiff zurückbringen werden, mit dem es dann endlich Richtung Heimathotel in Pigadia gehen soll. 

Bei unserem letzten Besuch sind wir bereits am frühen Abend zur Rückwanderung aufgebrochen, um noch vor Einbruch der Dunkelheit Diafani zu erreichen. Heute beschliessen wir den ganzen Abend in Olympos zu verbringen. Zur nächtlichen Rückkehr werden wir Jannis Dienste in Anspruch nehmen. Er ist der einzige Taxifahrer im Inselnorden.

Heute bläst wieder mal ein kräftiger Meltemi. "Bereits Homer sagte: .... " beginne ich die zum running-gag veredelte Erkenntnis, die Margit unvermeidlich ergänzt: "Karpathos, i Anemoessa (die Windige)".

Am Kirchplatz lassen wir uns  von den vielen Kleinigkeiten des Dorflebens faszinieren. Es sind nur Bruchstücke die wir
Fremden an der Oberfläche wahrnehmen können, dennoch erschliessen sich uns manche filigranen Erkenntnisse. Ein kleines Mädchen nähert sich zögernd. Dann baut es sich selbstbewusst vor uns auf: "Welcome in Olympos!" Dankbar zeigen wir unsere Freude und Bewunderung. Sie heisst Maria und hat in der Schule gerade ihr erstes Jahr Englischunterricht absolviert. Offenbar erschliesst sich schon in jungen Jahren die Bedeutung von Fremdenfreundlichkeit.

Rechtzeitig vor Sonnenuntergang haben wir einen Fensterplatz in Georgias Taverne oberhalb der hier steilabfallenden Westküste. Es ist etwas diesig heute. Dennoch geniessen wir den befreiten Blick über's Meer.
Der weichzeichnende Dunst zaubert sanfte Pastelltöne aus den gelb-orange-roten Farbenspiel der verschwindenden Sonne.

Beim Genuss von Makkarunes, Paidakia und anderen Köstlichkeiten entwickelt sich mit Georgias Vater eine lockere Plauderei. Er sitzt am tresennahen Familientisch, von wo er den ganzen Raum überblicken kann. Schnell wird der Fortgang der Bauarbeiten an der Verbindungsstraße zum Inselsüden Gesprächsthema. Seit Jahren ist der durchgängige Ausbau samt Asphaltierung geplant, teilstückweise auch schon umgesetzt. Häufig scheint es im Winter Rückschritte zu geben, wenn gewaltigen Regenmengen gerade neuangelegte Trassenteile wieder unterspülen und abrutschen lassen. Offenbar reicht es auch mit der EU-Unterstützung nicht für einen aufwändigen 
Drainage-Unterbau, um die Erosionskräfte angemessenen zu kanalisieren.
Gleich erweitert sich unsere Diskussionsrunde. Es gibt mindestens so viel Meinungen wie Gesprächsteilnehmer.
"Zwanzig Jahre noch ..."
" Die Strasse muss spätestens nächstes Jahr fertig sein ..."
"... das wird nie was."   

Schliesslich bitten wir Georgia den Taxifahrer Jannis anzurufen. Er wohnt in Diafani.  Sie erreicht ihn auf seinem Mobiltelefon, allerdings lässt er bedauernd ausrichten, dass er heute Abend im Inselsüden ist und erst im Laufe des morgigen Tages zurückkommt.
Wir wussten zwar, dass Jannis zu den wenigen gehört, die die Passstraße in seltenen Bedarfsfällen fahren. Ausgerechnet heute muss ein solcher Fall vorgelegen haben und ausgerechnet heute hat er sich entschieden im Süden zu übernachten.
Unsere und Georgias Besorgnis, wie wir nun nach Diafani kommen werden, versuch ich zu verscheuchen mit der Beschwichtigung: "Wir gehen mal zum Parkplatz. Früher oder später wird jemand runterfahren und uns mitnehmen."
Georgia zweifelt: "Sicher?"
"Ich bin sicher" sage ich und denke, genau wie Georgia und Margit "Vielleicht eher später als früher?"

Sofort nach Verlassen der Taverne umfasst uns das nächtliche Olympos mit einem überraschenden Stimmungsgemisch: Die gewohnte Vertrautheit wird durchdrungen von der
unheimlichen Disharmonie unserer in den menschenleeren Treppengassen laut widerhallenden Schritte.

Etliche Fahrzeuge sind auf dem Parkplatz abgestellt. Wird heute Abend noch jemand nach Diafani fahren? Irgendwann werden wir die circa sechs Kilometer stockdunkler Serpentinenstrasse zu Fuss angehen müssen. Erstmal machen wir's uns gemütlich und bestaunen den atemberaubenden Sternenhimmel über Dorf und Bergen.
Bevor wir realisieren, dass da jemand zu seinem Auto geht, fragt er: "Are you ready?" Der meint uns.
"Fertig? - Wofür?"
"Ihr wollt nach Diafani. Steigt ein!  Ich fahre Euch".  
Verblüfft genug starren wir ihn an, so dass  er das Wunder aufklärt: Er ist Dimitri. Seine Cousine Georgia hat ihn angerufen. Er solle zwei ihrer Gäste, die am Parkplatz warten, nach Diafani fahren. Nein, er führe nicht eigens für uns. Er hätte ohnehin unten noch was zu erledigen, aber ein Bier würden wir ihm schulden.
Durch diese grossartige Geste erreichen wir überrschend schnell Diafani. In der dortigen Strandtaverne lassen wir gemeinsam mit Dimitri gemütlich den Abend ausklingen und haben dabei Gelegenheit unsere Schulden zu tilgen. Ein Bier erschien uns dafür zu wenig.

© Klaus Thomas 2008


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