Überraschende Erwartungen

von Klaus Thomas

Erst am zweiten oder dritten Tag auf dieser magischen Gemeinschaftsterrasse vor unserem Quartier sind wir ganzheitlich hier an der südkretischen Küste angekommen, haben wir die Köpfe endlich befreit von dem alltäglichen Stapel der unerledigten Vorhaben, dieser ständig nachwachsenden Hydra. Immer wieder auf's Neue muss ich nach monatelanger Abwesenheit über die griechische Weisheit staunen und versuchen sie zu verinnerlichen: "Was wäre denn so wichtig, dass ich mir davon den Genuss des Augenblicks trüben liesse?"
Zugegeben, einigen Griechen der jungen Generation scheint diese Weisheit abhandengekommen zu sein, sie kämpfen mit der Hydra. Ansonsten gibt es genügend Gelegenheit gelebte Gelassenheit zu beobachten.
Rhythmisch züngelt das Libysche Meer gegen den Strandstreifen unter uns. Auf ganzer Breite rauscht ein leicht schäumendes Band gegen den sanften Kieselhang, fein klickern die kleinen Steinchen wenn sich das Wasser für den nächsten Anlauf zurückzieht.
In der Tamariske über uns schreit eine Zikade. Nur bei selektiver Konzentration kann man sich dieses beachtlichen Geräuschpegels bewusst werden. Uns umfängt ein tief anrührender Sinneszauber von Licht und Ton.      

Gerade betritt über den hinteren Zugang ein Paar die Terrasse. Vielleicht neue Gäste? Nach kurzem, deutsch klingendem, "Hallo" eilen sie erwartungsvoll Richtung Wohnungseingang von Eleni und Panos, den Vermietern. Offenbar sind sie Wiederkommer. Eleni hat sie längst gesehen und tritt heraus, um ihnen eine der Erwartung entsprechende Begrüssung zu bieten. Sie lässt sich umarmen und küssen. Nach dem beidseitigen "Ti kanis? - Kala!" wird unmittelbar ins Englische gewechselt. Auch Panos muss jetzt zum Umarmen und Küssen herauskommen. Ihm kann man schon eher ein wenig irritierte Distanziertheit anmerken.
Da wohnen in jeder Saison einige hundert Gäste im Haus, jeweils nur für ein paar Tage. Und nach einem Jahr, manchmal erst nach mehreren Jahren, kommt einer wieder und erwartet, dass man sich an ihn erinnert, womöglich noch seinen Namen, gar persönliche Details weiss.
Der Tourist hingegen hat sich aus seinen beiden Urlaubswochen nur den Vermieter und drei, vier Kellner zu merken, von denen er meist auch noch Fotos hat, die während des ganzen Jahres über seinem Schreibtisch hängen.
Das Sehnen nach Eitelkeitszuckerung lässt einen nicht realisieren, welche enorme Erinnerungsleistung von den Tourismusdienstleistern erwartet wird. Doch ist im salbungserwartenden Bewusstsein des Wiederkommers kein Platz für Zweifel. Auch ein weniger geschicktes Vortäuschen der Wiedererkennung droht nicht entlarvt zu werden.

Die beiden Neuankömmlinge  beziehen das Zimmer neben uns. Sie geben sich distanziert, haben kein Interesse bei einer zufälligen Begegnung auf der Gemeinschaftsterrasse meinen Gruss zu erwidern. Ich will eher "eine gewisse Menschenscheu" als fehlende Umgangsformen dahinter vermuten.
Die Zuwendung unserer neuen Nachbarin gilt überwigend den Katzen. Kaum die Koffer ausgepackt, fragt sie Eleni nach "Tiger". Es erfordert einige Erklärung, bis Eleni versteht, dass eine Katze gemeint ist.
Sie spricht mit den Katzen und was noch mehr verblüfft, die Katzen scheinen sie zu verstehen. Ich stelle mir vor wie ausgehungert eine griechische Katzenseele nach menschlicher Zuwendung sein muss, eine derartiger Daueransprache zu erdulden. Nun ja, es gibt halt auch immer Fresschen.

Kaum ein Thema erzürnt die Urlauberseele in Griechenland mehr als der Umgang mit Tieren. Hier die Vermenschlichung eines Hundes oder einer Katze - wie oft habe ich urbane deutsche Hundebesitzer beobachtet, die lange Ansprachen an ihren Wuschi richteten, bis ich nicht mehr überrascht gewesen wäre, hätte Wuschi in wohlgeformten Sätzen geantwortet. -
Dort die orthodoxe und ländlich beeinflusste Neigung, Tiere auf ihren Gebrauchswert zu reduzieren, auch bis zur Gleichgültigkeit gegenüber Tierquälerei. Das ist zu verurteilen. Nachhaltige Verbesserung ist sicher durch Einbeziehung von Tierschutz bei der Bewusstseinsbildung der nächsten Generation möglich. Ein langsamer Prozess. Aufgeregter Aktionismus von ignorant wahrgenommenen Fremden wirkt eher lächerlich und kontraproduktiv.
Bedenkenswert finde ich die Bemerkung, die unser Freund Jorgos einmal bei einer ähnlichen Diskussion machte: Hier im Dorf geniessen alte Menschen und Kinder hohen Respekt. Das mag in der Stadt anders sein. Allerdings seien Kindesmisshandlungen in deutschem Ausmass in Griechenland nicht bekannt.
Aktiviert uns etwa der winselnde Hund im Urlaub mehr als das verdächtig schreiende Kind im Alltag?  

Nach ein paar Tagen bestätigt sich unsere Vermutung, dass die Nachbarn, sie heissen Britta und Rainer, im Grunde nicht unfreundlich sind. Ihre Distanziertheit legt sich etwas, macht allerdings ausufernden Erzählungen von Katzengeschichten platz.
Erst nach Brittas Hinweis fällt uns auf, dass ihr Lieblingskater, den sie sinnigerweise Ahab getauft hat, nicht unversehrt ist. Da wo sein Schwanz sein sollte, ist ihm nur ein Knubbel geblieben. Eine tierische Verstümmelung verursacht durch menschlichen Irrsinn? "Da wird Ahab Steueungsprobleme bekommen, wenn er mal beim Sprung aus dem Fenster den Körper auf die Füße drehen muss", kommt mir als Erstes in den Sinn. Ansonsten scheint Ahab nichts zu fehlen. Kann es sein, dass Ahab sogar den Wachdienst vor der Zimmertür übernimmt, wie Britta behauptet? Wohl eher würde Ahab im Zimmer nach Futtervorräten suchen, die er dort zu Recht vermutet.  Da ist allerdings Rainer vor, der eine offenbar weniger herzliche Einstellung zu Tieren pflegt. Jedenfalls hat Ahab kapiert, in Rainers Gegenwart besser vor der Tür zu warten, bis sich eine günstige Gelegenheit zum Hineinschleichen bietet. Britta möchte dieses Warteverhalten gern zum Wärterverhalten umdeuten.

Ahabs Fauchen und Rainers "Aua" nehme ich fast gleichzeitig wahr. Ein scharfen "miau" und er Kater ist geflüchtet. Was passiert ist, ergibt sich aus Rainers Erkärung, die er der sofort aus dem Badezimmer herbeigeeilten Britta gibt. Ahab hat mit seinen Krallen Rainers Wade attackiert, als er am wartenden Wächter vorbei durch die Tür ging. Ob Rainer wirklich nicht schon vorher nach Ahab getreten hat, wird wegen dessen Aussageverweigerung ungeklärt bleiben. jedenfalls lässt Rainer sich zu einer nachträglichen Drohung hinreissen: "Wenn ich das Mistvieh erwisch ..." "Nun sei mal nicht so" versucht Britta zu beschwichtigen, deren Sorge ohnehin mehr Ahab gilt. Ich bin überzeugt, dass sie sich in diesem Moment der Zweideutigkeit nicht bewusst ist, als sie auf den verstümmelten Schwanz des Katers verweist: "Stell dir mal vor, dir wär sowas angetan worden". Nur mit Mühe gelingt es mir, mich nicht an meinem Kaffee zu verschlucken.  

 © Klaus Thomas 2009

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